HEXAPHYRON – Stufe 2: ASTROCOHORS ONLINE

Commander Luxley saß in ihrem Büro. Auf ihrem Schreibtisch lagen mehrere Tablettcomputer neben dem Terminal, das sich sowieso dort befand. Außerdem lag da noch ein Stapel mit Papier. Die Commander war sehr in ihre Arbeit vertieft, als die Tür zu ihrem Büro aufging.
„Ja?“, knurrte sie, ohne von ihren Computern aufzuschauen.
„Äh“, sagte ein Mann etwas schüchtern, „ich bin Jarmo Dorak. Ich soll mich bei Ihnen melden.“
Luxley blickte hoch. Ihre finstere Miene hellte sich etwas auf. „Ach, Sie sind das!“, sagte sie. „Nehmen Sie Platz, bitte! Dieser Tage ist alles ein bisschen chaotisch. Aber dann wiederum… wann ist es das nicht?“
Jarmo Dorak setzte sich. „Vielen Dank“, meinte er. „Der…“
„Karin“, sagte Luxley unerwartet.
„Bitte was?“
„Karin. Ich bin Commander Karin Luxley. Nur der Vollständigkeit halber.“

„Alles klar…“ Dorak wusste nicht, was er mit dieser zusätzlichen Information anfangen sollte, aber er ließ es mal so stehen. „Der…“, setzte er erneut an, wurde aber von einer Durchsage über das Lautsprechersystem unterbrochen. „Mitteilung von Hauptcomputer SIEGFRIED: HEXAPHYRON – Stufe 2 wurde initiiert“, sagte die Stimme der künstlichen Intelligenz der Station. „Übertragung der Speicherrechte läuft. Abgeschlossen in 5, 4, 3, 2, 1…“

Bild: Storyblocks

Der Countdown endete mit einem Piepgeräusch. Dann war Stille.
„Sehr schön“, stellte Luxley fest. „Ist das auch abgeschlossen. Nun, was wollten Sie sagen?“
„Der Stationskommandant sagte mir, dass Sie mir alles weitere erklären werden“, antwortete Jarmo schnell, nur um nicht mehr unterbrochen zu werden. Aber er wurde nicht unterbrochen.
„In der Tat“, sagte die Commander. „Aber um Ihnen ‚alles weitere‘ zu erklären, müsste ich erstmal wissen, was Ihnen bekannt ist.“
„Wo soll ich anfangen? Meine Geschichte ist… wie soll ich sagen… echt komplex.“
„Ich habe heute Nachmittag keine Termine mehr“, meinte Luxley. „Schießen Sie los.“
„Wie Sie wissen, habe ich lange für den ASTROCOHORS CLUB gearbeitet. Ich habe schließlich nach dem Tempel der Windharfe gesucht und ihn auch gefunden. Dort hat mich der Schwarze Würfel des Wissens in eine Art… parallele Dimension gezogen. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, aber wenn es stimmt, was ich berechnet habe, bin ich dort so rund fünf Jahre festgehangen. Dann wurde ich zurückgeschickt und im nächsten Moment finde ich mich im Garten der BASIS ATLANTIS wieder. Dann werde ich in Gewahrsam genommen und in einem Zimmer in der Basis in Hausarrest gesteckt. Ich hatte zwar jeden Komfort, aber keinen Kontakt zur Außenwelt und nur langsam hat man mir Informationen gegeben über das, was in den letzten fünf Jahren passiert ist.“
Luxley sah ihn schweigend an. „Wow“, meinte sie schließlich, „nach dem Anfang Ihrer Rede habe ich eigentlich einen zweistündigen Vortrag erwartet, aber das war ja ziemlich kurz.“
Sie stand von ihrem Stuhl auf und fuhr fort: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das gleiche versprechen kann, deswegen stehe ich jetzt mal auf. Wenn ich lange reden muss, muss ich auch im Raum rumlaufen. Fangen wir mal damit an: Sie wissen, wo Sie hier sind?“
„Öhm…“
„Okay, ich erklär’s Ihnen…“

Sie fing an, die terranischen Bodenstationen zu erklären. Die ATLANTIS, die langsam zur zentralen Einrichtung geworden war. Die anderen Basen, die man aufgegeben hatte. Und dann das Datenarchiv. Das Datenarchiv wurde schon eine sehr lange Zeit betrieben. Über die Jahrzehnte hinweg wechselten immer mal wieder die Speichermedien und es gab merkwürdige Vorkommnisse, aber die Speicherkammern unter dem Rheinfall schienen ziemlich sicher zu sein. So sicher, dass man das HEXAPHYRON, eines der letzten externen Archive, ebenfalls aufgab und in die Kammern unter dem Rheinfall integrierte. Die eigentliche Aufgabe war es, die Daten sicher aufzubewahren. Doch dann passierten zwei Dinge: Zum einen kündigte sich der Klimawandel an und der Rheinfall könnte sich da als unberechenbar erweisen. Der Pegel des Rheins würde sich nicht mehr einfach kontrollieren lassen. Man brauchte also eine Alternative. Zum zweiten stellte sich ausgerechnet nach der Zerstörung des Rasters heraus, dass…

„…Menschen der Erde unglaublich dämlich sind“, erzählte Karin. „Dämlich. Immanuel Kant erzählt ja was von der Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, bei diesen Prachtexemplaren kann man schon davon reden, dass es eine ’selbst gewollte Unmündigkeit‘ ist! Sie rennen Extremisten nach, die ihnen einfache Lösungen versprechen. Klimawandel – gibt’s nicht, und wenn, dann kann man da sicherlich Profit draus schlagen. Das Coronavirus – gibt’s nicht, aber lass uns mal Profit daraus schlagen, Masken zu verkaufen. Wenn es irgendwo auf der Welt Probleme gibt, dann ist da immer jemand Schuld dran. Irgendeine Verschwörung oder auch gleich die Juden. Es ist unglaublich, dieser miese, kleine Drecksplanet hat eine Jahrtausende andauernde Entwicklung mitgemacht, und die Menschen stecken immer noch im geistigen Frühzeitalter fest. Flache Erde und so ’ne Scheiße. Eigentlich gab es schon lange Pläne, irgendwas zu tun, aber wie es so ist, die Planer haben sich in Details verloren. Bis die Pandemie kam. Seien Sie froh, dass Sie das bisher nicht miterleben mussten.“

Jarmo Dorak nickte vorsichtig. „Ich habe darüber gelesen“, berichtete er. „Aber verstanden habe ich es nicht. Wie kann man denn die besten medizinischen Entwicklungen einfach so aus dem Fenster werfen?“
„Glauben Sie mir, Mister Dorak“, entgegnete Luxley, „keiner von den vernünftigen Menschen kann das richtig verstehen. Es gibt ein paar, die in Ansätzen in die Radikalität hineinblicken. Deswegen fingen wir in der Pandemie an, ASTROCOHORS neu zu strukturieren. Als dann vor über einem Jahr auf einmal diese Armada aufgetaucht ist und eine Blockade um das Sonnensystem gelegt hat, war uns klar, dass wir noch sehr viel weiter gehen mussten.“
„Was ist das für eine Armada? Leider hatte ich bisher noch nicht den vollen Zugang zu allen Daten. Obwohl dieser Commander Holland mir vor ein paar Tagen schon sehr weitergeholfen hat.“
„Interessante Frage, das mit der Armada, vielleicht verstehen Sie nun auch, warum Sie in Hausarrest gesetzt wurden. Bedenken Sie: Die Erde wurde unter Quarantäne gesetzt, dann kam diese Armada und riegelte das Sonnensystem ab. Und auf einmal – Pluff! – erscheinen Sie im Garten der BASIS ATLANTIS, im Hochsicherheitsbereich. Da macht man sich natürlich Gedanken. Wir wissen nicht genau, wo die Armada herkam. Es handelt sich um eine große Flotte kleiner Kampfraumer, vom Typ her unbekannte Bauart. Sie blockieren die Raumtunnel und damit den Zugang zum System. Außerdem fliegen sie wohl Patrouille an der Oort’schen Wolke, um zu verhindern, dass jemand von dort aus reinkommt.“
„Und sonst machen sie nichts?“
„Nichts was wir festgestellt hätten. Wir haben ein kleines Experiment gemacht und die alte Raumstation VERIS BASTION wieder in Betrieb genommen, bevor dieser Komplex hier seine Arbeit aufnahm. Wir hatten gedacht, dass sie vielleicht einen Angriff auf die BASTION starten würden, um die Verbreitung der Information zu verhindern. Aber nichts dergleichen geschah. Also haben wir das hier ins Leben gerufen.“
Sie breitete die Arme aus. „HEXAPHYRON und seine Abteilungen“, fügte sie hinzu. „Untergebracht in einer alten Schlossruine und einer alten Mine. Aber vielleicht sollte ich nicht sagen ‚ins Leben gerufen‘, sondern eher ‚wiederbelebt‘.“
„Aber die alte HEXAPHYRON war doch an einem anderen Standort, richtig?“
„Ja, richtig. Die Zentrale dort wurde zerstört, bevor sie richtig umgebaut werden konnte. Dann war erstmal Ruhe. Und was sie gerade gehört haben, war der Beginn der Phase 2 – oder Stufe 2 oder irgendwie so.“
„Wie viele Stufen soll es denn insgesamt geben?“
„So viele wie nötig. Bis die verdammte Struktur endlich stimmt! Der zentrale Computer Siegfried verwaltet jetzt die Datenbanken. Die Informationen werden überprüft, gespeichert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit kann ASTROCOHORS CLUB seine Aufgabe wieder wahrnehmen. Und so langsam kommen Sie ins Spiel.“
Wieder nickte Jarmo Dorak. „Ich bin ganz Ohr.“
„Hier sind wir bei ASTROCOHORS ONLINE. Wir bündeln die deutschsprachigen Informationen. Ich weiß nicht, inwieweit Ihnen unser Dilemma bewusst ist, aber wir müssen hier mit kommerziellen Anbietern zusammenarbeiten. Der Konzern Cuyel übernimmt die Speicherung der neuesten Informationen aus den Abteilungen. Immerhin haben wir es geschafft, mit Mhul zusammenzuarbeiten und die Struktur der Basis dem Zugriff von Cuyel zu entziehen. Sollte Cuyel irgendwann beschließen, uns die Strukturen nicht mehr zur Verfügung zu stellen, hätten wir immerhin noch diese Basis. Deswegen auch der Name.“
„Welcher Name?“
„Die Abteilung läuft als ASTROCOHORS ONLINE. Jetzt, da wir umgeschaltet haben, laufen die neuesten Informationen über die automatischen Datenbanken, der Betrieb der Basis aber hier.“
„Alles faszinierend“, musste Dorak zugeben, „aber was genau hat das jetzt mit mir zu tun?“
„Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen“, setzte Luxley an. „Sind Sie nicht genervt davon, ständig herumgereicht zu werden und von einem Ort zum andern reisen zu müssen.“
„Oh ja, sehr genervt!“
„Tja schade, aber das kann ich Ihnen nicht ersparen. Bei ASTROCOHORS hat man natürlich Ihre Berichte gelesen, auch über diesen ‚Dazwischen-Raum‘ und das ganze. Und man sieht in Ihnen Potential, deswegen möchte man Sie im ASTROCOHORS CLUB zurückhaben. Wir müssen es schaffen, dass die Menschen wieder vernünftig werden.“
„Wieder?“ Dorak zog eine Augenbraue hoch. „Nach dem, was ich gelesen habe, frage ich mich, ob die Unvernünftigen nicht die ganze Zeit da waren und jetzt nur ihre Chance gekommen sehen, sich als etwas besonderes zu fühlen.“
„Sehen Sie!“, sagte Karin und zeigte mit dem Finger auf Jarmo. „Genau das ist es! Dieser analytische Verstand. Das ist genau das, was wir brauchen.“

Dorak seufzte tief. „Und Sie sagen, dazu muss ich weiterreisen?“
„Wird sich nicht vermeiden lassen“, antwortete Luxley. „Von hier aus ist es nicht weit nach Straßburg. Gehen Sie dort zur Europäischen Abteilung von ASTROCOHORS. Da erhalten Sie Ihren Auftrag. Meine Aufgabe war es lediglich, Sie in die Situation einzuführen.“
Wieder ein Seufzer. „Erst sitze ich monatelang fest und jetzt reicht man mich im Lauf weniger Tage herum wie einen Wanderpokal. Aber gut, was soll ich schon tun?“

Er stand von seinem Sitz auf. „Wenn das alles ist…“
„Ja“, meinte Luxley. „Das ist alles. Machen Sie es gut, Jarmo Dorak.“
„Vielen Dank! Und Ihnen viel Erfolg mit ASTROCOHORS ONLINE.“
„Werden wir haben. Was bleibt uns anderes übrig?“

Am selben Abend machte sich Jarmo Dorak mit dem Zug auf nach Straßburg, zu ASTROCOHORS EU. Und entgegen der optimistischen Verkündung von Commander Luxley blickte ASTROCOHORS ONLINE einer eher ungewissen Zukunft entgegen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s